KAB Diözesanverband Paderborn

Tönnies und kein Ende

Es hat mich nicht gewundert, dass die Behörden im Landkreis Gütersloh erst in die Büroräume der Firma Tönnies eindringen mussten, um die Adressdaten der Beschäftigten zu erhalten. Ich kann mich noch gut erinnern: Vor einigen Jahren haben Mitglieder der Solidaritätsgruppen mit den Beschäftigten, allen voran die Interessengemeinschaft WerkFAIRträge, im Stadtrat von Rheda-Wiedenbrück angeregt, dass nur die Beschäftigten selbst sich bei den staatlichen Behörden an- und abmelden dürften und dass das nicht von den Firmen übernommen werden dürfe, bei denen sie beschäftigt sind. Der Stadtrat hat das damals mehrheitlich abgelehnt mit dem Hinweis, nach Auskunft auf dem Landesinnenministerium sei ein solches Vorgehen durchaus möglich. Die Solidaritätsgruppen haben dagegen argumentiert, dass im Prinzip Beschäftigte für irgendeine Adresse an – oder abgemeldet werden könnten, ohne dass sie selbst etwas davon wüssten. Sie könnten auf diese Weise meldemäßig im Nirgendwo verschwinden. Als besondere Schwierigkeit wurde angeführt, dass Menschen aus Südosteuropa oft gar nicht die Sprache des Meldeformulars verstehen könnten, unter das sie ihre Unterschrift setzen sollten. Die Angst der Beschäftigten, ihre Arbeit und gleichzeitig die Wohnung zu verlieren, ließ sie alles unterschreiben, was ihnen vorgelegt wurde.

Diese Angst war immer wieder zu spüren. Eine junge schwangere Frau legte ihr neugeborenes Kind in einer Mülltonne ab, damit ihr Arbeitgeber nicht von der Geburt und dem damit einhergehenden Arbeitsausfall erfuhr. Es ging durch die Presse, dass das Kind dann glücklicherweise gerettet wurde. Die Frau wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings inzwischen entlassen und lebt jetzt in guter Obhut. – Ärzte in Rheda-Wiedenbrück haben immer wieder berichtet, dass bei der Arbeit Verletzte dringend darum gebeten hätten, nicht krankgeschrieben zu werden, weil sie um ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene Unterkunft fürchteten. So etwas spielte sich sogar bei schweren Verletzungen ab, etwa wenn ätzendes Desinfektionsmittel in die Arbeitsstiefel gelaufen war.

Der Fall Tönnies ist ein Musterbeispiel dafür, was passiert, wenn Verantwortliche vor Problemen den Kopf in den Sand stecken. Dann all das und noch viel mehr konnte jeder wissen, der sich dafür interessierte. Aber das Vertrauen der Behörden, das jetzt „auf Null“ ist, war offensichtlich kaum zu erschüttern. Selbst als Arbeitsminister Karl-Josef Laumann im vergangenen Jahr durch eine systematische Recherche feststellte, dass es in NRW keine Großschlachterei ohne schwerwiegende Verstöße gegen Arbeitsrecht und menschenwürdige Unterkünfte gab, haben die Behörden nach meiner Kenntnis nicht reagiert, sondern auf ein Gesetzgebungsverfahren der Landesregierung gewartet.

Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen, und weil die katastrophalen Zustände in der Großschlachterei auch unmittelbare Auswirkungen auf tausende Außenstehende haben, ist das Erschrecken groß. So lange Elend und Ausbeutung in der meist unsichtbaren Parallelgesellschaft der Beschäftigten blieb, wurde es kaum als Impuls zur Veränderung wahrgenommen.

Tönnies ist nicht der einzige Fall, in dem Verantwortliche weggesehen haben. Wenig Impuls zur Veränderung gibt es auch bei anderen Parallelgesellschaften, die sich genauso schnell zu Hotspots der Pandemie entwickeln können. In unserem eigenen Land sind das zum Beispiel die Unterkünfte für Menschen, die sich um Asyl bewerben, wie etwa in den sogenannten Ankerzentren. Bisher haben wir großes Glück, dass sich das Virus – jedenfalls nach unserem Kenntnisstand – in den vielen Flüchtlingslagern noch nicht ausgebreitet hat. Weltweit gibt es zurzeit etwa 80 Millionen Flüchtlinge, die vielleicht nur deswegen noch nicht betroffen sind, weil sie für die Globalisierungsgewinner eher uninteressant sind. Und dazu kommen noch viele Menschen, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, bei denen das Virus noch nicht angekommen ist. Man mag sich nicht ausmalen, was los ist, wenn es dort wütet wie in verschiedenen Ländern der Karibik oder in Brasilien. Werden wir uns dann noch schützen können, selbst bei der Einhaltung aller Kontaktregeln? Wie groß wird der Aufwand bei der Bekämpfung des Virus sein, wenn es sich erst einmal über die gesamte Erde ausgebreitet hat?

Unsere Nabelschau auf die Gutsituierten in der „Ersten Welt“ hat dazu geführt, dass allzu große Teile der Gesellschaft den Kopf in den Sand stecken vor den Armuts- und Gefährdungsrisiken in weiten Regionen unserer Erde. Bisher haben wir oft auf der Sonnenseite der Globalisierung gestanden. Inzwischen merken wir nicht nur beim Klimawandel, dass wir in unserer einen Welt nicht auf einer Insel der Seligen leben können. Die Kosten, mit der uns das Leben bestraft, wenn wir zu spät kommen, werden die der jetzt notwendigen Aufwendungen und Änderungen um ein Vielfaches übersteigen.

Konrad Nagel-Strotmann, Diözesanvorsitzender der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB)

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